Dem Tee auf der Spur

von Angela Losert
Alles begann im Herbst 2019
Die Interessierten der für den Frühling 2020 geplanten Teereisen treffen sich mit Reiseleiter Lukas Lange im Raritätenraum von Länggass-Tee in Bern. Wir wollen uns einen Traum erfüllen und zum Ursprung des geliebten Tees reisen, um mehr über Tee, die Pflanze, seine Produktion und die Kultur im fernen China zu erfahren. Was Lukas erzählt, überzeugt und beflügelt uns. Voller Vorfreude melden wir uns definitiv für die Südchina-Reise an, in der es vor allem um Schwarztee und Pu Er geht, planen den Flug und zählen die Tage bis zur Abreise.
Sonntag, 24. März 2024
Wir zählten dann doch viele Tage bis zur Abreise! Ganze vier Jahre dauert es, bis wir endlich aufbrechen können. Zu unseren wenigen Kenntnissen über China, welche die Geschichte über einige Dynastien, die Kulturrevolution, einen kommunistischen Staat mit Geburtenkontrolle sowie TCM umfassten, ist in den vergangenen Jahren noch die Erfahrung «Corona» hinzugekommen, die China oft unvorteilhaft in die Schlagzeilen brachte. Wir haben unseren Traum bewahrt und freuen uns, dass die Reise in kleiner Gruppe endlich stattfindet.
Allein unsere Anreise über Chengdu nach Dali ist ein Erlebnis voller Überraschungen, die uns deutlich machen, wie wenig wir über dieses riesige Land China und seine Menschen wissen. Der regionale Anschlussflug in Chengdu war schon gestartet – Einreiseformalitäten –, das Bodenpersonal der Fluggesellschaft dann aber ausserordentlich zuvorkommend. Schnell ist klar, dass wir nicht nur unseren Tee-Horizont erweitern werden.
Wir erreichen Dali am Mittag des 24. März 2024 und sind froh, dass Lukas uns die Adresse unseres Hotels nahe der Altstadt Dalis in chinesischen Schriftzeichen zukommen liess, da hier scheinbar niemand Englisch versteht, liest oder gar spricht. Überraschenderweise ist aber sowohl am Flughafen als auch im Strassenverkehr die Beschilderung Chinesisch und Englisch. Nach einer Reise durch die Neustadt Dalis, Xiaguan, erreichen wir voller erster Eindrücke das schmucke, sehr stilvoll eingerichtete Hotel, mit einem stillen, grünen Innenhof.
Da das Programm der Teereise offiziell erst am Dienstag, 26. März beginnt, haben wir ausreichend Zeit, uns mit der Zeitverschiebung, der Altstadt voller ausgelassener chinesischer Touristen, dem lauten Gehupe der Roller auf den Strassen und Wegen, sowie den öffentlichen Steh-Toiletten anzufreunden. Natürlich trinken wir erst einmal einen Pu Er-Tee, mit dem kleinen Gong Fu Cha-Set, das wir inklusive Wasserkocher und Trinkwasser-Vorräten in unserem Zimmer vorfinden.
Kurz treffen wir Lukas und unsere Übersetzerin und Reisebegleiterin A Xing mittags in der Hotellobby. Wir nutzen die Gelegenheit, einige Fragen zur digitalen Kommunikation zu klären, weil unsere gewohnten Kommunikationsgefässe Whats App, Signal und VPN nicht funktionieren - und nie ganz funktionieren werden.
Die dritte Reisegefährtin, Katharina, würde am Abend spät noch eintreffen. Ab jetzt trage ich ein kleines buntes Notizbuch bei mir, in das ich mir zum ersten Mal in meinem Leben Reisenotizen mache. Diese sind die Grundlage für diesen Bericht, in dem ich versuche, aus den vielen Eindrücken und Erlebnissen, Highlights und Nachdenkliches zusammenzufassen.
Dienstag, 26. März 2024
Wir starten unsere Teereise. Um 8 Uhr morgens treffen wir uns in der Lobby, brechen zu Fuss auf, um am Platz um die Ecke bei einer Garküche unser Frühstück zusammenzustellen. Es gibt Suppe, für die man die Gemüse- und Fleischzutaten wählen kann, Nudeln, Reis, verschiedene gefüllte Teigtaschen und frittiertes Brot, sowie einen neutralen Reisschleim, den man nach Wunsch würzen kann.
Wir sitzen auf kleinen Schemeln an einem niedrigen Plastiktisch, geniessen die neuen Geschmäcke und beobachten, wie die Einheimischen all die Speisen geschickt mit ihren Stäbchen essen. Gebrauchte Papierservietten entsorgen sie mit grosser Selbstverständlichkeit einfach auf dem Boden, während wir verstohlen nach einem Eimer suchen, in den wir die Abfälle werfen könnten. Wir staunen, dass zum Frühstück kein Tee serviert wird.
Etwas später im ersten Teegeschäft, das wir besuchen, lernen wir von der Geschäftsführerin, dass vor dem Frühstück traditionell abgekochtes Wasser getrunken wird, da es laut chinesischer Philosophie ungesund ist, Tee vor oder während der ersten Mahlzeit zu trinken. Sie meint jedoch lachend, dass ihre Eltern dies noch so gehandhabt hätten, sie selbst trinke Tee zum Frühstück und ihre Tochter sogar Kaffee.
Unser Fahrer Xiao Wei erwartet uns anschliessend an der Strassenecke und bringt uns in Dalis Neustadt. Lukas und A Xing, die im Jahr 2018 zum letzten Mal gemeinsam in Dali waren, staunen, wie sehr sich die Stadt verändert hat, wie sehr Dali gewachsen ist, nicht nur in die Breite, sondern vor allem in die Höhe.

Wir besuchen die örtliche Teestrasse: eine ganze Strasse, nur mit Geschäften voller Tee und Teezubehör. Wir sind fasziniert! Wir werden von Liu Sui Hong, der Geschäftsführerin und Mitglied der Women’s Tea Society, zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen bereits in ihrem Laden erwartet.
Über die Schwelle eines Teegeschäfts zu treten, bedeutet für uns, in eine andere Welt einzutauchen. Das beginnt beim betörenden Duft, den der Tee verströmt, der in grossen Glaströgen und Keramikgefässen überall im Raum lagert, bereit zum Abfüllen und Verkauf. Die Wände rundum sind mit Regalen versehen, in denen verschiedenste, gepressten Fladen, die sogenannten Tea Cakes, präsentiert werden. Jeder Tea Cake ist in feines Papier gewickelt, kunstvoll mit chinesischer Malerei und Kalligraphie gestaltet.
Wir setzen uns auf die eine Seite des mächtigen Tisches, das Team des Geschäfts auf die andere Seite. A Xing übernimmt von jetzt an die Übersetzung und somit Gesprächsführung. Wie noch oft auf dieser Reise, probieren wir zuerst den «neuen», also diesjährigen Tee, einen jungen Pu Er. Darauf folgt dann meist der Tee gleicher Provenienz aus einer früheren Ernte und am Schluss dürfen wir wünschen, was wir noch gerne degustieren wollen.
Das Probieren geht dann so: Die Teeblätter werden abgewogen und in den Gaiwan gegeben. Wir schnuppern dran. Mit dem ersten Aufguss des genau ideal temperierten Wassers werden die kleinen Teeschalen gereinigt und der Glücksbringer am Rande des Teetischs wird gleich mitgeduscht. Mal ist dies ein Frosch mit Münze im Mund, mal ein Schweinchen… Wir schnuppern am nun nassen Blatt und am Deckel des Gaiwans. Nun folgen rasch hintereinander mehrere Aufgüsse, bei denen alle Augen, Nase, und Zunge sich voll dem Tee widmen. Statt ständig Danke zu sagen, klopfen wir mit Zeig- und Mittelfinger auf den Tisch. So wird das Gespräch nicht durch ein ständiges Danken unterbrochen. Erst wenn wir die letzte Schale erhalten haben, die wir trinken wollen, dann bedanken wir uns mit Worten.
Es folgen ein grüner, ein schwarzer und ein weisser Tee. Klar ist, dass für jeden Tee ein neues Geschirr gewählt wird. Ich beobachte die Vorlieben und überlege mir schon, was ich denn am schönsten finde. Es fällt uns schwer, nicht immer gleich unsere Eindrücke zu schildern, sondern zu warten, bis alle den Tee degustiert haben, damit wir mit eigenen Worten Duft und Geschmack miteinander teilen und vergleichen können. Und noch fällt es uns schwer, die Nuancen des Geschmacks in Worte zu übersetzen. A Xing übersetzt und Lukas ergänzt unsere Erfahrungen immer wieder mit Fachwissen über Ernte, Produktion, Herkunft...
Zwischendurch stehen wir auf, streifen durchs Geschäft und bewundern das Porzellan, die Teeboote in verschiedenen Grössen, Teekocher, Teeflaschen und die Dekorationen des Ladens, die nicht selten aus kunstvoll geformten, gepressten Teefiguren bestehen.
Wir wissen, dass in den Teeläden, die wir besuchen, kein Kaufzwang besteht. Aber auf den Geschmack gekommen, können wir es nicht lassen, bereits erste «Perlen» zu erstehen. Wir wissen ja noch nicht, wie viel Tee wir in den kommenden Tagen noch geniessen werden, geschenkt bekommen und selbst herstellen werden…
Gegen Mittag verabschieden wir uns, streifen noch etwas durch die Teestrasse und essen dann in einem kleinen Restaurant. Dies ist das erste von vielen Essen, bei denen wir einfach auf das Wissen und die Erfahrungen von A Xing bei der Essensbestellung vertrauen. Besonders und für mich als nicht so grosse Fleischliebhaberin günstig ist, dass wir in einem Restaurant essen, das von Moslems geführt wird. Es gibt nur eine Sorte Rindfleisch und dazu viele köstliche Gemüse- und einige fremdartig schmeckende Gerichte, die in der Mitte des Tisches stehen und von denen wir uns alle bedienen.
Danach fährt uns der Fahrer zu den drei grossen Pagoden, dem Wahrzeichen von Dali, die in einer riesigen, erst vor kurzem wieder ganz neu aufgebauten Tempelanlage am Fusse des Cangshan-Gebirges liegen. Wir wandern durch die Anlage. Die zentrale 16-stöckige, 1150 Jahre alte Pagode ist beeindruckend. Wir erklimmen über insgesamt rund 700 Treppenstufen die verschiedenen Tempelanlagen. Oben erwartet uns, zum Glück für unsere Knie, ein kleiner Bus, der uns wieder ins Tal bringt.
Soll ich verraten, dass Urs und Lukas am erstbesten Stand vor den Pagoden erst einmal einen Kaffee getrunken haben? Hier muss erwähnt sein, dass Yunnan auch für seinen Kaffee bekannt ist.
Mittwoch, 27. März 2024
Nach einem Frühstück im Hotel lassen wir uns von unserem Fahrer Xiao Wei in die nahen, bewaldeten Hänge Dalis zum Taoxi Valley fahren. An einer Strassenbarriere müssen wir das Auto zurücklassen. Ein Beamter scannt uns mit einem Stab. Neben ihm steht ein Eimer, in dem alle Feuerzeuge abgegeben werden müssten, wenn wir denn hätten: eine Massnahme gegen Waldbrände.

Wir gehen das letzte Stück zu Fuss und lernen kurz darauf die Besitzerin des Teegartens, Jian Hui, kennen, die ihren Teegarten seit 10 Jahren bewirtschaftet. Nach einem kurzen Marsch bergauf sehen wir sie, die ersten Reihen buschige Teepflanzen, den Hanglinien entlang gepflanzt. Das gibt doch schon ein wenig freudiges Herzklopfen, da Tee bei uns nicht wächst und es darum ein besonders kostbarer Moment ist, von den Teepflanzen umringt zu sein.
Die Büsche sind ca. 60 Jahre alt, der Garten wird biologisch bewirtschaftet, jedoch ohne anerkanntes Label. Wie in der Schweiz, bedeutet die Anerkennung der Bio-Bewirtschaftung mit einem Label einen grossen, administrativen Mehraufwand und Mehrkosten, die sich in diesem kleineren Betrieb nicht auszahlen. Wir erkennen, dass der Boden begrünt ist und einige der Blätter angeknabbert sind, was uns zeigt, dass keine Herbizide und Insektizide zum Einsatz gekommen sind.
Unsere Aufgabe ist klar. Wir ernten «one bud and one leaf»: die Knospe und das erste frische Blatt. Damit werden wir am heutigen Tag unseren ersten eigenen Grüntee herstellen. Wir haben eine Stunde Zeit unsere kleinen Erntekörbe zu füllen. Zu Beginn fällt es uns schwer, im dichten Grün die geeigneten Knospen und Blätter in der richtigen Grösse zu erkennen. Die «magere» Ernte, die wir zum Wirtschaftsgebäude des Teegartens bringen, lässt uns bewusst werden, welch kostbarer Schatz handgepflückter Tee doch ist. Wir legen die Blätter auf grossen, flachen geflochtenen Bastschalen aus, damit sie «sich setzen» können. Nur kurz werden sie ausgelegt, es geht beim Grüntee nicht darum, dass die Blätter welken.

In der Zwischenzeit haben wir Gelegenheit uns im gemütlichen Verarbeitungs- und Degustationsraum umzusehen. Unsere Meisterin heizt die Wok-Pfanne ein, verteilt Handschuhe und niedrige Schemel zum Sitzen, die für unsere Knie definitiv eine Herausforderung sind. Sie erklärt uns, dass im nächsten Schritt das Blattgut in gut portionierten Mengen im Wok erhitzt wird, damit der Oxidationsprozess am Blatt sofort gestoppt wird. «Killing the green» nennt sich dieser Arbeitsschritt. Die Blätter müssen ständig gewendet werden, damit sie nicht am Boden der Pfanne anbrennen. Wir wechseln uns bei der Bearbeitung unserer Blätter ab. Schnell schrumpft das Blattvolumen zusammen. Der unvergleichliche, wunderbare Teeduft erfüllt den Raum.
Nachdem dieser Arbeitsschritt beendet ist, erhalten wir alle eine kleine Menge abgekühlter Teeblätter und die Meisterin zeigt uns, wie wir diese mit unserer hohlen Hand sammeln und rollen können. Damit erreichen wir, dass der Saft aus dem Blattgut tritt, der dann ein zweites Mal erhitzt und im Blatt fixiert wird.
Die Teemeisterin beendet diesen Prozess für uns, damit wir rechtzeitig bei einer Bauernfamilie in einer nahgelegenen Waldlichtung Mittagessen können. Ein weiteres wunderbares Mahl in heimeliger, familiärer Umgebung, begleitet vom Wind, der durch die Bäume rauscht und den Gänsen und Hühnern, die vor dem Haus schnattern und gackern. Zurück im Teegarten haben wir gerade noch Zeit, unseren fertigen Tee in wunderschöne Büchsen abzufüllen und anzuschreiben bevor uns unser Fahrer im komfortablen Mercedes Richtung Norden führt.

Vorbei an Siedlungen, Feldern mit Rosen, Gemüse und Obst erreichen wir ein traditionelles, sehr ruhiges Dorf mit dem wunderschönen Namen Yinqiao, «Silberne Brücke». Hier finden im Künstlerhaus von Freunden unserer Übersetzerin A Xing wöchentlich kulturelle Veranstaltungen statt. In familiärem Rahmen erwartet uns das Konzert eines sehr sympathischen Bambusflötenspielers, der seine Flöten mit selbst gesammeltem Bambus herstellt.
Zu zwanzigst sitzen wir mit anderen chinesischen Gästen auf Meditationskissen um einen langen, tiefen Tisch. Und natürlich trinken wir Tee.
Die Gastgeberin, Xiao Ling, serviert ihn gewandt mit Grazie und beinahe beiläufig, während sie sich mit uns Gästen unterhält. Wir lauschen dem Konzert mit verbundenen Augen und tauschen uns nachher darüber aus. Welch ungewöhnlicher Ort, der uns eine ganz neue Perspektive auf die Menschen in China ermöglicht, wie «Tee» zu ihrem Alltag gehört und gelebt wird. Am Schluss greifen alle musikalisch Begabten zu einem Instrument ihrer Wahl und «jammen» gemeinsam.
Beglückt fahren wir zurück zum Hotel und bereiten uns auf das Hot Pot-Abendessen vor, das echt chinesische Fondue, bei dem verschiedenste Zutaten im heissen Sud gekocht und dann herausgefischt und gegessen werden.
Donnerstag, 28. März 2024
Unser Weg führt uns in die Kleinstadt Xizhou, die an der «Ancient Tea Horse Road» liegt. Der «antike Tee-Pferde-Weg» fasst verschiedene Routen durch China und angrenzende Länder zusammen, auf denen früher Tee mit Pferden transportiert und gehandelt wurde. Xizhou ist eine sehr lebendige Marktstadt, in der viele der traditionellen Häuser gut erhalten oder sanft renoviert wurden. Touristisch ist sie entsprechend gut besucht. Wir haben eine Verabredung zur Teezeremonie der Bai-Minorität im Linden-Center Xi Lin Yuan. Das Center wurde vor Jahren von einem Amerikaner gegründet, der ein herrschaftliches Haus auf traditionelle Weise renovierte und ausser einem Hotel ein Zentrum für lokale Kultur errichtete. Der Gebäudekomplex umfasst Gebäude, die um drei Innenhöfe angeordnet sind. Beim Eingang ist der prächtigste Hof, der Empfang und Ort für Gäste und Feste. Im mittleren Hof lebten die Hausbesitzer und um den dritten, schlichtesten Hof wohl die Bediensteten.
Ein junger Chinese mit aussergewöhnlichen Englischkenntnissen führt uns durch die Bai-Teezeremonie. Auf dem Tisch stehen neben den Teeschalen zwei kleine Tischöfen, zwei grössere Tonkrüge und die Zutaten Ingwer, geriebener, getrockneter Käse, gemahlene Nüsse, Honig, Zucker, Zimt und Pfefferkörner. Urs wird als Gehilfe auserwählt, der den Anweisungen des Meisters folgt und ebenfalls Tee zubereitet und serviert. Zuerst wird der grüne Tee geröstet. Die Geschichte über einen Holzschnitz-Meister und seinen Schüler begleitet die Teezeremonie. Der Geschmack des Tees entspricht in der Geschichte den Erfahrungen im Verlauf des Lebens. Tee einmal ganz anders!
In der nächsten Stunde trinken wir einen bitteren Tee, der beleben soll; einen mit Zuckerrohr gesüssten und mit Trockenkäse und Walnüssen angereicherten Tee zur Stärkung; und zuletzt einen mit Zimt und rotem Pfeffer gewürzten Tee, der den gesamten Reichtum der Erfahrungen des Lebens repräsentiert. Die letzte Schale erinnert an den indischen Chai. Wir sinnieren, ob über die Ancient Tea-Horse-Road die Teetraditionen verschiedener Regionen mitgereist und ausgetauscht wurden, beziehungsweise sich von einem Ort zum anderen weiterentwickelt haben.
Nach einem reichhaltigen Mittagessen lernen wir die weitere Umgebung aus dem Auto kennen, indem wir bis ans Ende des Erhai-Sees fahren und diesen umrunden. Während im Norden des Sees die Bergwälder mit Pinien und anderen Laubbäumen dicht bewachsen sind, sind die Hügel auf der Südseite ähnlich wie im Mittelmeerraum höchstens mit Buschwerk bewachsen, und die Erde ist feuerrot. Wir besuchen einen Weiler namens «Chicken’s Nest». Von der wunderschönen Lehmüberbauung am Hang haben wir einen weiten Ausblick auf den Erhai-See Richtung Dali. Die Stadt ist nicht sichtbar, es ist leider zu dunstig. Besonders beeindruckend ist die Ausstellung, die der ansässige Künstler Shenjian Hua mit den lokalen Bai-Bäurinnen gemacht hat. Farbenfroh malten sie ihr Leben. Weniger beeindruckend ist der Beuteltee vor Ort, so dass wir zur Abwechslung mal Säfte und Kaffee trinken. Dafür ist das Cheese Cake perfekt.
Einen richtigen Tee bekommen wir erst später im Städtchen Shuanglang, «Farbenfrohe Wolke», direkt am See. Auch dieser Ort hat sich in den letzten Jahren zum Touristenzentrum entwickelt, viele neue Hotels sind entstanden, die direkt auf den See hinaus gebaut wurden. In einem modernen Teehaus lassen wir uns von der jungen Geschäftsinhaberin weitere Pu Ers und am Schluss einen weissen Tee servieren. Sie erzählt uns, dass sie ihren früheren Laden wegen Covid-19 schliessen musste, dann ein weiteres Kind bekommen hat und erst seit kurzem diesen neuen Laden führt. Wir staunen, wie jung und unternehmungslustig sie ist. Auch sie serviert uns den Tee gekonnt und mit Anmut. Nach einem Abendessen fahren wir zurück zum Hotel und verdauen im Schlaf die neusten Eindrücke.
Karfreitag, 29. März 2024
Nach dem Hotelfrühstück werden wir zur örtlichen Seilbahn gebracht, die uns hangaufwärts zu einem gut ausgebauten Wanderweg entlang des Cangshan Gebirges bringt. Der Sessellift führt uns gemächlich auf der Höhe der Baumkronen entlang duftender Pinien nach oben. Unter uns entdecken wir immer wieder Grabstätten, einzeln oder gruppiert, oft geschmückt und durch Pfade miteinander verbunden. Es ist, wie wenn die Verstorbenen Ruhe, Natur und einen schönen Ausblick auf die Stadt Dali haben sollten.

Die Wanderung beginnt in einer kleinen Klosteranlage, die von zwei Mönchen belebt und gepflegt wird. In einem der Tempel sitzt in der Mitte Buddha, ihm rechts zur Seite Laotse und links zur Seite Konfuzius. Uns ist immer noch nicht klar, wer hier welcher Religion folgt, und was überhaupt Religion und was Lebensphilosophie ist.
Wir marschieren los. Die Landschaft ist wild, die Hänge steil. In den Kerbtälern können wir die hohen, teilweise schneebedeckten Berggipfel erkennen. Aufgrund des in diesem Frühling ausbleibenden Regens strecken einige der Bäume erst ihre Knospen in den Himmel, andere erfrischen schon mit deutlichem Grün. Rhododendren und Azaleen blühen weiss, rosa und leuchtend rot. Sie erinnern an die Alpenflora. Die mehrstündige Wanderung ist eine gelungene Abwechslung, um die vielen Eindrücke der ersten Tage zu verarbeiten…
Wieder mit einer Bahn ins Tal gegondelt, bringt uns der Fahrer zu unserem nächsten Ziel: zum Teegarten Yuan Yang School im Universitätsviertel Dalis, der von Cai Yun, einer Bai-Frau, geführt wird. Dort ist auch das Mittagessen schon organisiert. Wir lassen uns Wein servieren, nicht wissend, dass mit Wein alle Alkoholgetränke gemeint sind, und es sich hier um einen sehr starken Branntwein handelt: ein Schluck genügt!
Das Anwesen ist gross, die Gebäude sind um einen grossen Garten gebaut, von der Dachterrasse hat man einen wunderbaren Blick über Dali. Der junge Hund in der Hundehütte scheint nicht als Wachhund gehalten zu sein, das übernehmen die Gänse, die sich bedrohlich schnatternd vor uns aufbauen, als wir zum Teeraum schreiten.
Wir beginnen auch hier unseren Teegenuss mit einem diesjährig gepflückten Pu Er. Wir vergleichen ihn mit dem aus dem letzten Jahr. Die Tees sind noch nicht gepresst. Mittlerweile schon etwas profihafter schnuppern wir am Gaiwan, an der leeren Kanne und lassen schliesslich schlürfend den Tee über die Zunge fliessen. Wir probieren dabei beim Ausatmen den Teegeschmack mit der Nase aufzufangen. Wir schmecken deutlich den Unterschied zwischen dem diesjährigen und dem schon gelagerten Tee. In unserer Gruppe sind die Vorlieben unterschiedlich, was immer wieder zu spannenden Diskussionen führt. Einige lieben mehr die herben Tees, ich mehr die Lieblichen. Wir merken indes alle, wann ein Tee astringierend wirkt und ein ungutes Gefühl in Gaumen und Hals hinterlässt.
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Schwarz und/oder Pu Er
Reist eine:r in den Fernen Osten, um schwarzen (in China: roten) und Pu Er-Tee zu verkosten, denkt man sich: gehüpft wie gesprungen, der eine ist wie der andere, alles Südchina. Doch es war wie Tag und Nacht, oder Yin und Yang, um im Osten und bodenständig zu bleiben.
In der Produktion sind die beiden Tees sozusagen Nachbarn, ersterer wird gerollt und oxidiert, letzterer befeuert, davor und danach werden sie gleich verarbeitet - ausser, dass Pu Er der Fermentation überlassen wird. Kleine Unterschiede, die, scheint's, ganze Welten ausmachen, und bei der Konsumation sind es dann tatsächlich deren zwei.
Den (für mich) besten Schwarztee haben wir in der Umgebung des altehrwürdigen Dali genossen, bei - nennen wir sie, der Einfachheit halber, Meili, einer ebenso tee- wie geschäftstüchtigen und geselligen Unternehmerin mit Haus und Hof und natürlich Hund: Die Sonne ging auf, besser gesagt die Honigsonne, Licht und Wärme und eine unaufdringliche, vollendete Süsse aus Wald und Wiese, ein Frühsommertag mit einem kleinen Rest Frühlingsfrische und treibenden Knospen, Wohlbefinden im Wachstum oder für den Touristenführer «Teatime-Wellness».
Keine Spur davon beim Pu Er, der zeigt sich nicht, nicht beim ersten, beim zweiten und auch nicht beim dritten Aufguss. Ich weiss nicht mehr, war es im Teeladen in Kunming, beim familiären Tee bei - mit allem Respekt, aber auch einfach - Wei am Nannuoshan oder beim Gong Fu Cha im alten Teeviertel von Jinghong... da war eine erster Abdruck, in der Nase, auf der Zungenspitze, noch etwas rätselhaft. Er legt erst eine Fährte, der Pu Er, folge mir, sagt er. Und dann, geweckt, instinktiv, stellt man ihm nach, Zug um Zug, setzt sich ein Puzzle zusammen, ein Kaleidoskop, das sich laufend verändert – was fermentiert, bleibt Fragment. Die Geschmäcke bittersüsssauer, erdig, holzig, herb, herbstlich, nach der Ernte.
Wären die beiden Tees, und das wären dann wohl alle, ein Buch mit sieben Siegeln, sie wollten nicht dasselbe, sie wollen sich ausdrücken oder ausgelegt werden, sich enthüllen oder sich ergründen lassen. Sie brauchen Anbetende und Exegeten. Und so bin ich, der ich nach wie vor keine oder nur eine kleine Ahnung von Tee habe, einfach gespannt auf neue, grosse, schwarze Offenbarungen und noch vielmehr auf der Pirsch für kleine, feine pu'ersche Fingerzeige, Tag für Tag.
Dies sind blosse Mutmassungen eines Anfängergeistes, welcher Tee also hell, hart, positiv, aktiv, bewegt ist oder dunkel, weich, negativ, passiv, ruhig, bleibt allemal offen. Und die Vermutung muss sich auch keineswegs bewahrheiten, aber sie ermöglicht es immerhin, immer wieder so zu beginnen, als ob man noch nie einen Tee getrunken hätte. Urs Flückiger
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A Xing übersetzt uns die Teepreise, damit wir unsere Lieblingstees kaufen können, sorgfältig abgepackt: Grüner Tee in grünen Dosen, weisser Tee in Weissen und der Tee, den wir bei uns Schwarztee nennen, wird in China roter Tee, Hong Cha, genannt und entsprechend in roten Dosen abgefüllt.
Unsere Gastgeberin ist eine stolze, geschäftstüchtige Frau, in ihren Augen blitzt es schelmisch und selbstsicher. Im Anschluss an die Degustation zeigt sie uns ihre gesammelten Schätze. Sie unterhält eine private Sammlung alter Schriften, Tongefässe, Teezubehör und Seidengemälde. Leider dürfen wir nicht fotografieren. Das ist zwar in allen historischen Tempeln und Museen so üblich, aber hier geht es sicher auch darum, dass diese Sammlung nicht offiziell ist und Cai Yun lieber nicht nach aussen tragen will, was sie gesammelt hat. Wir sind überzeugt, dass ihre Gänse das beste Bewachungssystem für ihre alten Kunstwerke darstellen.
Ein letztes Abendessen in Dali wartet auf uns, bevor wir uns ans Packen machen müssen…
Samstag, 30. März 2024
Abschied von Dali. Wir müssen früh raus, versorgen uns darum mit Baozi-(Teigtaschen) und Obst für ein Frühstück im Zug. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Länggass-Tee-Reisen, dass die Fahrt von Dali nach Jinghong mit dem Hochgeschwindigkeitszug möglich ist. Es gibt diese Strecke erst seit kurzem. Der Bahnhof Dali ist überwältigend. Einmal mehr erleben wir, dass China einfach ein Land mit unglaublich vielen (lauten) Menschen und grosser Mobilität ist. Hunderte von Menschen strömen durch die Sicherheitskorridore in den Bahnhof, einmal mehr werden unsere Pässe gescannt und das Gepäck durchleuchtet. Auf einer riesigen elektronischen Anzeige wird angegeben, wo und wann der Zutritt zum Gleis freigegeben ist. Nur wenige Menschen haben noch Fahrkarten, der Kauf der Fahrkarten ist mit der ID gekoppelt, so dass sie einfach ihre ID scannen und dann die Schranken passieren können.
Im Zug füllen wir zuerst unsere Wasserflaschen mit heissem Wasser auf und trinken unseren Morgentee. Etwa zweieinhalb Stunden dauert unsere Reise in die Provinzhauptstadt Yunnans, Kunming. Dort haben wir Zeit für einen kurzen Besuch in der «Teatown», bevor es gegen Abend weitergeht nach Jinghong, ins Herz der Pu-Er-Produktion. Was in Dali eine Teestrasse war, ist in Kunming ein ganzes Viertel. Ein Teeladen reiht sich an den nächsten, ganze Strassenzüge gibt es mit Marktständen und Geschäften der Produzent*innen, welche vor allem Tee an Händler und die Gastronomie aber auch an Privatkunden verkaufen.
Wir werden wiederum in einem Teeladen erwartet und zu Tisch gebeten. Wiederum sind es zwei junge Frauen, die uns bewirten. Mich freut es, dass das Teegeschäft offensichtlich gleichwohl in Frauen- wie in Männerhand liegt. A Xing übermittelt wie immer unsere Fragen. Interessant ist für uns, woher die Tees kommen. Es gibt unzählige bekannte Pu-Er-Herkunftsbezeichnungen, die an die Namen der umliegenden Berge gekoppelt sind. Die Teehändlerin lässt für uns Landkarten ausdrucken, auf denen die genaue Herkunft ihrer Tees ersichtlich ist. Wir staunen, wie nahe das südliche Teegebiet an den Grenzen zu Laos und Myanmar liegt. Die Teehändlerin schenkt Lukas die Karten und wir lassen sie sorgfältig für die Weiterreise einrollen.
Uns bleibt eine Stunde Zeit durch «Teatown» zu schlendern. Mittlerweile interessieren uns die Läden für Zubehör fast mehr als die Teeläden, die ausschliesslich Tee verkaufen. Erstens wissen wir bereits, dass wir den überall ausgestellten Tee nicht einschätzen können, die Fülle an verschiedenen Tees überfordert manchmal sogar. Das stilvolle Teetrinken an den verschiedenen Orten hat uns auch die Vielfalt schönster Teeschalen, Kannen und Gaiwans sowie die kleinen Glücksfiguren nähergebracht. Natürlich wollen wir einige Andenken für unsere zukünftige Gong Fu Cha-Praxis mit in die Schweiz bringen.
Mit ein paar Plastiktaschen mehr und einigen Yuan-Scheinen weniger treten wir die Weiterreise an. Die vorüberziehende Landschaft wird grüner, die Vegetation verändert sich. Erste Bananenplantagen tauchen auf, eine Weile lang fahren wir durch eine Gewächshauswüste. Aber meistens stecken wir etwas enttäuscht in irgendwelchen Tunnels, die für den Hochgeschwindigkeitszug gebaut wurden.
Als wir in Jinghong ankommen, ist es bereits dunkel. Eine imposante und bunt beleuchtete Skyline erwartet uns. Ein chinesisches Bangkok? Oder Las Vegas? Wir dachten, es würde nun nur noch ländlicher. Mit einer so pulsierenden Grossstadt hatten wir nicht gerechnet. Auch diese Stadt muss sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt haben. Der Anschluss an den Hochgeschwindigkeitszug ist sicher mit dafür verantwortlich. Die Stadt am Mekong hat sich zu einem beliebten Reiseziel für Chinesen entwickelt, die die Wärme und die Exotik des Südens suchen. Die Aussentemperatur beträgt auch abends spät noch über 30 Grad und unser Hotel liegt inmitten des Ausgangsviertels.
Oster-Sonntag, 31. März 2024
Ein erstes Frühstück gibt es im 8. Stock, gleich neben dem Dach-Pool. Wir geniessen die Auswahl am Buffet, chinesisch und kontinental mit Blick auf die Skyline, Pagoden und Hügel, über denen die Sonne als oranger Feuerball aufgeht.
Um 9 Uhr fahren wir los nach Nannuoshan. «Shan» bedeutet «Berg» und wir dürfen heute einen der fünf bekannten Pu Er-Berge kennenlernen. Wir überqueren den Mekong und verlassen das Siedlungsgebiet. Baumschulen und Gärtnereien säumen die Strassen, bevor wir uns auf gut geteerten, breiten Strassen durch Höhentäler schlängeln. In den Ebenen noch Felder mit Gemüse und bald auch Bananen und andere tropische Früchte, die Hänge bis zu den Kuppen waldbedeckt. Noch ist der Wald nicht voll ergrünt, es fehlt auch hier an Regen. Zwischen hohen Bäumen erspähen wir die ersten Teegärten, mal in Form gestutzter Buschhänge, dann wieder recht wild als Tee-Wald mit alten Bäumen.
Wir erreichen den Hof von Zhang Mei Lan, einer Frau der Ethnie der Hani. Zwei schwarz-weisse Enten watscheln gemächlich über die Strasse und am Hang hängt ein runder Bienenkasten, vor dem emsiger Honig-Betrieb herrscht. Wir erhalten Plastik-Umhängetaschen, die in der Schweiz «mega-trendy« wären und marschieren los zu den Teebäumen, die wir beernten sollen. In den Hainen sehen wir ab und zu Pflückerinnen und Pflücker bei der Arbeit oder für eine Pause zusammensitzend. Rund eine Stunde pflücken wir selbst, wiederum «one bud and one leaf». Es darf auch mal ein zweites Blatt sein, damit wir mehr Menge haben, schliesslich soll es für jede und jeden von uns zur Produktion eines eigenen Pu Er-Cakes reichen; Hauptsache die Blätter sind noch zart.

Zurück auf dem Hof legen wir die Blätter aus, damit sie die kommenden drei Stunden welken können. Das gibt uns Zeit, im familieneigenen Teeraum ausgiebig Tee zu trinken und diesen zu besprechen. Der 19-jährige Sohn von Zhang Mei Lan hat für uns ein wunderbares Mittagessen vorbereitet. Danach gibt es, logisch, wieder Tee, den diesmal auch der Sohn ausschenkt. Er ist im Familienbetrieb eine wichtige und kompetente Unterstützung. Die 11-jährige Tochter erscheint mit einigen Freund*innen, sie ist am Wochenende zu Hause und muss erst am Folgetag wieder nach Jinghong ins Internat. Die jüngeren Kinder sind sehr schüchtern, rennen immer wieder davon. Aber die Neugier siegt, sie kommen jedes Mal ein Stück näher. Es braucht eine Weile, bis es uns gelingt, sie zu einem Gruppenfoto zu überreden.

In der Zwischenzeit hat Zhang Mei Lan die zwei Wok-Pfannen im unteren Gebäudeteil erhitzt. Eingefeuert wird von der Aussenwand mit Holz, die Woks sind schräg auf Tischhöhe an der Innenwand einbetoniert, so dass wir die gewelkten Blätter nun stehend befeuern können, um die Oxidation zu stoppen. Wir wechseln uns wieder ab, es ist heiss am Wok.
Nebenan hören wir das Geräusch der Rollmaschine, in der die Ernte vom Vortag 40 Minuten lang rollt, um die Blätter aufzubrechen, damit für die Schwarzteeproduktion gute Oxidationsbedingungen geschaffen werden. Nachdem unsere Blätter abgekühlt sind, rollen auch wir - von Hand, auf dem Boden - um ihnen Form zu geben. Sie werden danach auf der gedeckten Dachterrasse bis zum kommenden Tag getrocknet.
Zufrieden und müde fahren wir zum Hotel zurück und nutzen den Abend, um uns im Pool abzukühlen und Wäsche zu waschen, bevor wir uns zum Abendessen treffen und das chinesische Nachtleben bestaunen.
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Schuhe, handgemacht, frei nach WeChat
Geht eine:r in den Fernen Osten, denken er oder sie nicht unbedingt, mit einem Paar handgefertigter Schuhe wieder nach Hause zu kommen, vor allem wenn frau oder man kein einziges Wort Chinesisch kann. Doch Müssiggang auf einem Markt in einer Altstadt ist aller Versuchung Anfang, beim Eindunkeln spontan in eine Seitengasse eingebogen, um das Chaos auf der Kreuzung zu umrunden - dann war da in einem dieser Rollladen-Läden eine Auslage dieser klassischen, amerikanischen Schnürstiefel, markenlos.
Und schon ging's los. ???, fragt der junge chinesische Schuhhändler. ???, antworte ich. English? fragt er. Ich nicke. Er nimmt sein Mobiltelefon (mit der WeChat-App) zur Hand und spricht mit ihm, derweil im Hintergrund seine Eltern die westöstliche Unterhaltung amüsiert mitverfolgen. Dann hält er mir das Gerät hin und dieses fragt mich in bestem Englisch, welcher Schuh mich interessieren würde. Ich zeige auf den Moc Toe. Er sagt etwas zu seinem Handy, drückt auf eine Taste und diesmal lese ich: Which size do you wear? Nun rede ich mit dem Telefon: Forty-four. Er liest - grosse Augen. Die Innensohle mit den Ziffern 44, die er mir nach einigem Suchen unter den Fuss legt, ist deutlich zu klein, wir nehmen die 45er. Nun legt sein Vater verschiedene Leder aus, wir prüfen Farbe, Dicke, Geschmeidigkeit und geben das Stück der Wahl zurück. Nun wird's schwierig: Termin und Bezahlung. Ich sage seinem Handy, dass wir in drei Tagen abreisen - der Text auf dem Bildschirm sorgt für Unverständnis, Kopfschütteln und Rücksprache mit dem Vater. Dann spricht er zu seinem Handy, dass mir übersetzt sagt, wir könnten die Schuhe in zwei Tagen abends abholen. Kreditkarte zeigen, Kopfschütteln. Also alte Schule: Mann ist nicht flüssig, Frau schiesst vor. Sein Daumen hoch, meiner auch, der Handel ist perfekt.
Nach zwei Tagen waren alle wieder da, wir, der Macher und der fertige Schuh. Happy End. Ach ja, der Preis, nicht der Rede wert - die Chinesen meinen allerdings, in China sei die menschliche Handarbeit zu günstig, weil es genug, wenn nicht gar zu viele Hände gäbe. (Die Chinesen meinen auch, die WeChat-App sei derart gut gemacht, damit sich niemand für WhatsApp oder Ähnliches aus dem Westen interessiere - was gut sein kann. Über WeChat wird auch ganz einfach bezahlt, wenn man ein Bankkonto in China hat.) Urs Flückiger
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Oster-Montag, 1. April 2024
Wie am Vortag brechen wir um 9 Uhr auf und holen Zhang Mei Lan im Dorf weiter unten am Nannuoshang ab. Sie führt uns weiter ins Gebirge, durch weitere Tee-Dörfer mit mehr oder weniger prächtigen Gebäuden zur Teeproduktion, die wir an den flachen Dachterrassen erkennen, auf denen Tee getrocknet wird. Unser Ausflugsziel ist ein prächtiger Wald, in dem die ältesten Teebäume der Region stehen. Bis zu 800 Jahre alt sind sie, über ihnen thronen Urwaldriesen und das Konzert der Vögel erinnert an Tarzanfilme. Inzwischen hat sich auch hier der profitable Tourismus etabliert. Tee interessiert das Reisevolk China! Mancherorts im Wald wurden Plattformen auf Stelzen an den Hang gestellt, auf denen Tee serviert und verkauft wird. Die romantische Kulisse lädt zum Verweilen ein.

Auf dem Rückweg zu unserem getrockneten Tee dürfen auch wir im familieneigenen Tee-Wald über quer angelehnte Bambusstämme auf Teebäume klettern, um zu sehen, wie sich das Ernten in der Höhe anfühlt. Es ist wie Kirschen pflücken, doch die SUVA hätte keine Freude. Nach einem weiteren, sagenhaften Mittagessen, vielen Schalen Tee und einigen Gruppenfotos mehr packen wir unsere getrocknete Teeernte in einen Sack, um diesen in eine Fabrik zum Pressen zu bringen. Lukas kauft noch dazu, da unsere Menge nicht reicht, um für jeden von uns einen Teacake» herzustellen.
In dem kleinen Fabrikgebäude duftet es vertraut nach Tee, ich kann davon nicht genug kriegen. Das Herstellen der Pu Er-Cakes gliedert sich in vier Schritte. Eine erste Person wägt in einer Blechbüchse genaue 357 Gramm ab. Der Boden dieser Büchse besteht aus einem feinen Sieb. Von einer zweiten Person wird die Büchse dann auf eine Dampfquelle gestellt und innert kürzester Zeit fallen die wieder feuchten Blätter in sich zusammen. Sofort werden die Blätter von einer dritten Person in einen Baumwollsack umgefüllt, der am Ende stark zugedreht wird. Eine vierte Person stellt diesen Sack unter die Presse und bringt ihn beidseitig in die endgültige Form. Danach liegen die Teacakes auf dem Steinboden, beschwert von schweren Mahlsteinen, die wir, darauf balancierend, noch mit unserem Eigengewicht beschweren. Eine Weile wird der gepresste Tee im Baumollsack getrocknet und gekühlt, danach ausgepackt und auf Blechen in Regale geschichtet, drei Tage lang nachgetrocknet. Er wird uns nachgeschickt werden.

Schweren Herzens lassen wir unsere Ernte zurück, trinken nochmals Tee auf dem Hof von Zhang Mei Lan. A Xing schenkt uns ein Lied auf einer Gitarre, die sie neben den Teesäcken gefunden hat. Unsere Gastgeberin und ihr Mann singen uns ein wunderschönes, eindringlich gefühlvolles, ja herzerweichendes Liebeslied der Hani vor. Unsere Darbietungen der deutschsprachigen, dialektalen Liedkultur hört sich demgegenüber, na ja, eher bodenständig, «bhäbig» an. Wir überreichen unsere schokoladigen Oster-Geschenke für die Familie, vor allem für die Kinder und dann heisst es leider Abschied nehmen.
Dienstag, 2. April 2024
Heute geht es zur Stadt Pu Er. Wir werden bereits um 7.30 Uhr von unserem Chauffeur Lee abgeholt und schlagen eine neue Richtung ein. Auf der Autobahn passieren wir nicht nur die Maut-Stelle, sondern auch eine Polizeikontrolle, bei der wir alle unsere Pässe zeigen müssen. Das erinnert uns daran, dass hier viel unter Kontrolle steht, was wir auf unserer Reise aber nur selten bemerken. Wir lassen Hügel an uns vorbeiziehen, die an Juralandschaften erinnern, einfach mit einer ganz anderen Flora und mit vielen Teegärten und -plantagen. Wir durchqueren die Stadt Pu Er und erreichen eine gepflegte, mit niedrigen Teebüschen dicht bepflanzte Anlage. Gesäumt werden die Teereihen von schattenspendenden Bäumen, in den Senken befinden sich mehrere kleine Seen und Teiche, die der Fischzucht dienen, wie wir später erfahren.
Wir lassen unseren Kleinbus am Haupteingang der Fabrik von Zuxiang Organic Tea stehen und spazieren den verschiedenen älteren und neueren Fabrikationsgebäude entlang. Lukas erklärt uns, dass, die niedrigen Gebäude oberhalb als Unterkunft für Wanderarbeiter*innen dienen, die bei der Ernte helfen. Am Kopf des Hügels steht ein grosses, elegantes Gebäude mit einer langen Degustationshalle. Vicky erwartet uns und freut sich, Lukas persönlich kennenzulernen, nachdem sie vorab mehrmals mit ihm in E-Mail-Kontakt war, um unseren Besuch zu planen. Wir trinken nur kurz einen ersten Tee, danach erhalten wir die typisch chinesischen Strohhüte, allerdings aus Plastik, und Körbe zum Umhängen für die Ernte.
Das Ziel heute ist, eigenen Schwarztee zu machen. Wir beginnen mit der Ernte, bevor es richtig heiss wird. Begleitet werden wir von Vicky und einem Mitarbeiter, die uns zeigen, wie wir ernten sollen: «two leaves and a bud»: zwei Blätter und eine Knospe... der Mitarbeiter lacht gerne und redet in einem fort, leider für uns immer chinesisch. Während wir ernten, singt er uns auch ein Liebeslied aus der Hani-Tradition. Einmal mehr staunen wir, wie gut die Hani-Männer doch singen können.
Schwarztee lässt sich aber nicht wirklich an einem Tag machen. So erfahren wir, dass wir die eigene Ernte mitnehmen und im Hotel in Eigenregie trocknen und so zu Weisstee verarbeiten dürfen. Der Schwarztee, dessen Produktion wir heute mitverfolgen, ist bereits am Vortag durch lokale Pflücker*innen gesammelt worden. Wir werden mit weissen Kitteln und blauen Haarnetzen sowie Überschuhen ausgestattet und Vicky zeigt uns die ganze Fabrik. Wir dürfen Fotos machen, obwohl überall Verbot-Schilder hängen. Was wir bei den Kleinbauern in ihren Häusern in kleiner Ausstattung kennengelernt haben, ist hier im grossen Stil in Hallen verfügbar: grosse belüftete Flächen zum Auslegen und Welken, verschiedene Wok-Pfannen und zusätzliche Maschinen, die wir noch nicht gesehen haben und deren Funktion wir erfragen müssen.
Obwohl gerade die meisten Maschinen stillstehen, können wir in den Hallen den Teeduft wahrnehmen – und geniessen. Die gestapelten Säcke zeigen, dass vor kurzem Tee produziert wurde. Unser Teegut ist bereit zum Rollen. Wir alle dürfen eine kleine Menge von Hand rollen, damit wir sehen, wie es geht, der Zuständige der Fabrik übergibt den Rest des ca. 8 kg schweren Erntegutes für 35 Minuten der Rollmaschine, damit es schneller geht. Nach 20 Minuten sammelt er mit gerunzelter Stirn auch unser Werk ein. Er scheint keine Geduld für unsere ungeübte Rollkunst übrig zu haben und übergibt darum auch diese Blätter der Maschine.


Während wir uns weiter die Fabrik ansehen, wird der Tee in den kommenden Stunden in einem Container, in dem Wärme und Feuchtigkeit reguliert sind, oxidiert, damit wir ihn am Abend mitnehmen können. Wir passieren einen Lagerraum mit gestapelten Kartonschachteln, in dem einige Mitarbeitende dabei sind, eine Lieferung von Beuteltee für Japan zu verpacken. In der Eingangshalle des Unternehmens angekommen, staunen wir über die diversen gerahmten Bilder mit Zertifikaten und Preisen. Vicky und der Mitarbeiter sind stolz, dass Zuxiang Organic Tea so viele Preise gewonnen hat. Seit fünf Jahren sind sie nun mit dem europäischen Biolabel zertifiziert und beliefern zum Beispiel auch den deutschen Markt und Starbucks.
Das Mittagessen nehmen wir in der weiteren Umgebung ein, eine zweite Marketing- und Verkaufsfrau, Nancy, welche wie Vicky recht gut englisch spricht, schliesst sich uns an. Wunderbar sind die «Gaststuben», bei denen die Fenster scheibenlos sind, so dass die Luft zirkulieren kann. Das macht die für uns sommerliche Hitze erträglich.
Zurück in der Fabrik machen wir im Laborraum eine Degustation verschiedener Tees gemäss internationalen Standards mit. Dabei werden je 3 g des zu testenden Tees nebeneinander in drei Gaiwane bei 100 °C drei Minuten lang ziehen gelassen. Von einem Tee gibt es dann zwei bis maximal drei Aufgüsse. Wir probieren ganz junge und etwas ältere Tees, und wieder erkennen wir feine Unterschiede. Da wir noch etwas warten müssen, bis unser Schwarztee ganz trocken ist, spazieren die einen durch den Teegarten und andere machen Siesta im Bus.
Der angestellte Tee-Sommelier gesellt sich nun zu uns, um unseren Tee zu probieren. Er ist nicht zufrieden, meint, unser Tee habe einen Produktionsfehler, wäre wahrscheinlich zu wenig lange gerollt worden. Darauf hatten wir leider keinen Einfluss. Ob der ungeduldige Rollmeister vielleicht früher nach Hause wollte und den Prozess vorzeitig abgebrochen hat? Uns schmeckt unser Schwarztee gar nicht so schlecht. Klar ist, dass er nun erst einmal ein paar Tage ruhen muss, bis er genussreif ist.
Nachdem unser Tee in fünf grosse Plastiktaschen gefüllt ist, fahren wir nach Pu Er zu einem frühen Abendessen mit dem Zuxiang-CEO, Herrn Zhang. Während wir aufs Essen warten, unterhält sich Katharina intensiv mit Vicky und Nancy, den beiden englischsprachigen Marketingfrauen der «Company» und entlockt ihnen viel über ihren Werdegang und ihr Alltagsleben. Das Warten hat sich gelohnt: eine riesige, runde «Peacock»-Platte voller Speisen in dekorativster Anordnung wird auf den Tisch getragen. Wie sollen wir das alles nur essen? Die Heimfahrt nach dem ausgiebigen Pfauen-Dinner dauert gute eineinhalb Stunden. Wir sind müde und fallen ins Bett, derweil um unser Hotel das Nachtleben pulsiert.
Mittwoch, 3. April 2024
Nochmals nehmen wir die eineinhalbstündige Fahrt zur sympathischen, ungewöhnlich ruhigen Stadt Pu Er auf uns, um das Geschäftshaus der Zuxiang Organic Tea Company kennenzulernen. In einem gepflegten Quartier liegt es, von aussen unscheinbar, innen eindrucksvoll der japanischen Ästhetik nachempfunden, gestaltet von einem Stararchitekten. Über drei Stockwerken kann hier in verschiedenen Räumen, die alle nach den verschiedene Teearten benannt sind, Tee degustiert und gekauft werden. In Regalen ist dekoratives und sehr geschmackvolles Teegeschirr ausgestellt, das leider nicht käuflich ist. In der Eingangshalle steht ein riesiger, aus einem Wurzelstamm gearbeiteter Teetisch und links davon in einem Steinbrunnen schwimmen Goldfische.
Der CEO, Mr. Zhang, serviert uns auf unseren Wunsch hin zuerst einen Pu Er und dann unseren eigenen Schwarztee. Ihm gefällt unser Tee trotz des «offensichtlichen», gestern durch den Tee-Sommelier diagnostizierten Fehler. Zu Lukas Empfinden, wonach der Tee im «Abgang» ein Kratzen hinterlasse, meint er, das verliere sich in ein paar Tagen. Die ersten Aufgüsse unseres Schwarztees, der bei den Chinesen ja ein Rottee ist, sind farblich recht hell, gelblich. Bei den späteren Aufgüssen wechselt die Farbe zu einem schönen Bernstein. Wir freuen uns, dass der CEO unserem Tee einen Namen gibt: Joy of a long road, Freude des langen Wegs / der langen Reise. Zum Abschied erhalten wir von Herrn Zhang einen gepressten Weisstee und eine kleine Teeschale mit einer Skizze ihres Teegartens. Er muss geschäftlich weiter.
Vicky und Nancy hingegen begleiten uns nach weiteren Schalen Teegenuss zu einem grossen, traditionell fast ganz aus Bambus gebauten, zweistöckigen Restaurant in der Nähe. Dort werden wir mit Trommelwirbel und Gesang an der Eingangstreppe in Empfang genommen. Es ist ein Restaurant der ethnischen Minderheit Wa. Die überall präsenten Totenschädel von Rindern verweisen uns auf den Rinderkult dieser Minderheit, der sich auch in einer Tendenz zu allerlei Speisen aus sämtlichen Teilen des Rindes ausdrückt. Zum Glück für die Skeptiker*innen unter uns gibt es auch allerhand Gemüse und etwas Salat.
Gut genährt brechen wir auf zu einer touristischen Perle der Pu Er Gegend. Nakeli, ein traditionelles Dorf, erhalten und restauriert, durch das der Ancient Tea Horse Trail geht. Nachdem wir das Dorf besichtigt und einige Souvenirs erstanden haben, trinken wir in schönstem Ambiente klassisch chinesischer Bauweise den wohl schlechtesten Tee auf der ganzen Reise. Aber das Ambiente war es wert… Doppeltes Glück hatte, wer einen Cold Coffee bester italienischer Machart bestellt hatte.

Voller neuer Eindrücke kehren wir ins pulsierende Jinghong zurück, wo wir am Abend ein Dinner mit Blick auf den Sonnenuntergang über dem Mekong in der Tradition der Dai-Kultur geniessen, der grössten der Minderheiten hier ganz im Süden Chinas. Ziemlich scharf ist das alles mit viel Fisch und Meerestieren. Und beim nächtlichen Spaziergang am Ufer des Mekong haben wir unsere ersten Begegnungen mit Mücken.
Die Frage, ob wir nach der Teereise eine Mekong-Schiffahrt machen wollen, erledigt sich, als wir die riesigen, leuchtenden, lärmenden, blinkenden Unterhaltungsschiffe sehen, die einem Kreuzfahrtschiff ähnlich laut und lustig Folklore anbieten.
Donnerstag, 4. April 2024
Pünktlich um 9 Uhr holt uns Fahrer Lee beim Hotel ab und bringt uns in einstündiger Fahrt zum grossen botanischen Garten der Region, dem Xishuangbanna Tropical Botanical Garden. Die Maut-Stellen sind heute unbesetzt, es ist Feiertag in China (Qingming, Tag der Grabreinigung und der Frühlingsausflüge) und die Fahrt auf den Autobahnen umsonst. Der Feiertag wird uns so richtig bewusst, als wir die Reihen von Reisecars sehen, die auf dem immensen Parkplatz vor dem Areal des Gartens Seite an Seite parken. Oh je, ist unser erster Gedanke. Aber dadurch, dass der Park mehrere Hektaren gross ist und man mit kleinen Bussen erst mal zu verschiedenen Ausgangspunkten gefahren werden muss, verteilen sich die Angereisten sehr schnell.
Die Grösse des Gartens und entsprechend die Zahl der Pflanzen sind gigantisch und wir schlendern schliesslich nur durch einen kleinen, ausgewählten Teil der Anlage. Unser besonderes Interesse hat die Ausstellung über die die Medizinpflanzen der Dai und eine Präsentation der wichtigsten Ethnien, die in Yunnan leben, geweckt. Fast allen gemeinsam ist, dass sie Tee anbauen. Nun ist es sehr, sehr heiss. Nach einem Imbiss und dem Staunen über einen Roboter in Menschengestalt, der Softeis abfüllt und verkauft, kehren wir zurück nach Jinghong, ins dortige Teequartier.
Noch vor wenigen Jahren lag das kleine Teequartier inmitten der Ausgehmeile von Jinghong. Das Hotel, in dem auch die Länggass-Tee-Reisen in früheren Jahren Station machten, wirkt geradezu verwaist, gar etwas mufflig. Es ist ruhig, wohl zu heiss und zu früh für viel Betrieb im Quartier. Lee führt uns zu seinem Kollegen Hu Yi Fan, der dort das Teegeschäft seines Familienbetriebs führt. Er ist ein sehr junger Hani, liiert mit einer Dai, die ihm im Laden hilft. Der Laden ist klein und überall hat es Kalligrafie-Zubehör: Pinsel und Papier: Der Grossvater von Hu Yi Fan war auch Kalligraph. Wir probieren den Tee der Familie, deren Gärten nahe der laotischen Grenze im Gebiet Yiwushang liegen. Der junge Geschäftsmann lebt jedoch meist in Bangkok. Er bietet selbst Teereisen mit Übernachtungen an. Lukas vernetzt sich mit ihm über WeChat.
Wir probieren zwei verschiedene junge, und dann noch einen etwa 15-jährigen Pu Er, bei dem die Lagerung im Gaumen doch deutlich und angenehm spürbar ist. Das zeigt sich auch beim Preis des Tees.
Danach suchen wir noch Läden mit Teezubehör. Da sich die Reise dem Ende zu neigt, wird es Zeit, sich die fehlenden Utensilien für die eigene Gong Fu Cha-Praxis in der Schweiz zu kaufen. Lukas führt uns zu einem edlen Geschäft, bei dem uns die Entscheidung nicht leicht gemacht wird, welche Schalen, welchen Gaiwan, welche Krüge wir denn nun kaufen wollen. Begleitet wird der Entscheidungsprozess von diversen Schalen Tee, die der Ladeninhaber uns serviert, während einzelne von uns immer wieder durchs Geschäft tigern und diverses Zubehör in den Händen halten und bewundern. Der Gehilfe braucht dann seine Zeit, um alles einzupacken. Dafür erhalten wir alles so gut eingepackt, dass auch das feine Porzellan die Reise über den asiatischen Kontinent im Koffer überstehen sollte.
Freitag, 5. April 2024
Unser letzter gemeinsamer Reisetag beginnt. Routiniert brechen wir nach unserem Frühstücksritual pünktlich um 9 Uhr auf, diesmal wieder in eine andere Richtung zum Jinuoshan, das Gebiet einer weiteren ethnischen Minderheit, der Jinuo. Hier ergänzen wir unser Repertoire an Produktionsarten und -orten durch den Besuch einer mittelgrosse Teefabrik, deren Besitzerin eine Teeanbaugenossenschaft ist. Auch hier sind wir gerade zu spät, um die Teeverarbeitung aktiv mitzuerleben. Die Produktion einer grösseren Menge Bai Cha, weisser Tee, wurde gerade in den Vortagen abgeschlossen. In grossen Säcken liegt er und ich schnuppere noch so gerne den Duft, der in der Luft hängen geblieben ist. Wir werden durch eine Vertreterin der Genossenschaft durch die Räumlichkeiten geführt und können einer Arbeiterin zuschauen, wie sie geschickt und sehr schnell Pu Er-Kugeln presst. Wir fragen uns, wie viele Kugeln sie produziert, wenn sie ca. 8 h arbeitet.
Nach der Besichtigung der Produktionshallen setzen wir uns in einen Teeraum mit einem grossen Tisch und mit neuen Dekorationen. Die Präsentationsfläche wird von zwei kleinen Trommeln flankiert, in Anlehnung an die Jinuo-Tradition der grossen Trommeln. Vor uns liegt gepresster Tee in Form eines «Piratenhutes». A Xing erklärt uns, dass dies die Form eines früheren Zahlungsmittels sei: So sahen in China die Goldbarren aus, die es je nach Wert in verschiedenen Grössen gab. Ein gelungener Marketing-Gag für Kund*innen?

Wir probieren verschiedene Tee, wie immer fangen wir beim Pu Er der diesjährigen Ernte an, dann degustieren wir einen des Vorjahres und schliesslich können wir wünschen, was wir noch probieren und vielleicht kaufen wollen. Es ist die letzte Gelegenheit. Uns erstaunt, dass im Angebot auch gepresste schwarze Tees sind und wir erfahren, dass der Tee hier meist als loses Blatt aufbewahrt wird. Manchmal wird älterer weisser und schwarzer oder auch grüner Tee gepresst, um ihn haltbarer zu machen. Anders als Pu Er verlieren diese Tees mit dem Alter an Geschmack. Das Pressen hilft konservieren.
In den Regalen mit den gepressten Teelaiben ziehen die Verpackungen in violetter Farbe unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das sei Purple tea, informieren uns Lukas und unsere Gastgeberin. Es ist Tee aus einer verwandten Camelia Varietät, der eine gesundheitsfördernde Wirkung nachgesagt wird. Natürlich wollen wir ihn probieren. Beim Geschmackserlebnis sind wir uns nicht einig: «Ein Nachgeschmack, der ans DDR-Desinfektionsmittel erinnert», ist nur eine Beschreibung. Auf jeden Fall ist dieser Aufguss etwas gewöhnungsbedürftig für unseren langsam routinierten Pu Er-Gaumen. Wir kaufen trotzdem ein paar gepresste Purple-Tea-Kugeln und weitere Tee. Neu kann im mehrgeschossigen Gebäude der Teefabrik auch gleich gegessen werden kann. Wir nehmen das Angebot an. A Xing wählt gezielt aus und verschont uns vor den hier typischen Gerichten aus getrockneten Ameisen oder Maden.
Letztes Highlight dieser Reise ist am Nachmittag der Jinuo-Park. Wir bezahlen Eintritt, um das Ballenberg der Jinuo-Kultur zu besuchen. An verschiedenen Stationen im Dschungel wird gezeigt, wie sie traditionell gelebt und gearbeitet haben. Ich erblicke einen «Marterpfahl» und frage A Xing, ob dieser als Folklorebestandteil nur für Tourist*innen bemalt und geschnitzt sei. Sie beteuert, dass dem nicht so sei. Die Jinuo beten die Sonne an, wie wir später bei einer Tanz- und Trommel-Aufführung sehen. Und die Sonne ist überall präsent, aufgemalt an den Häusern, auf den Kleidern und auf nahezu allen Gegenständen.
Nach dem musealen Teil nehmen wir einen Schleichweg auf der anderen Seite des Hügels und besuchen das Dorf, in dem die Menschen heute leben und auch Tee produzieren. Bei einer der Auslagen auf Bast handelt es sich beim genaueren Hingucken allerdings nicht um Tee, sondern um getrocknete Ameisen. Wir fragen uns, wie sie die «ernten». Mitten im Dorf halten Lukas und A Xing auf eine kleine Teemanufaktur zu. Hier duftet es wieder unglaublich und wieder sehen wir die vertrauten Wok-Pfannen und die Rollmaschinen. Niemand ist zu sehen, es ist ruhig und auch ziemlich unordentlich um die kleine Halle herum.
Die Hausherrin und Teeproduzentin Xiao Ze hat uns aber bemerkt und kommt uns entgegen. Spontan ist sie bereit, uns Tee zu servieren. In einem einfachen, nicht ganz aufgeräumten Raum setzen wir uns um den Tisch. Die 58-jährige Gastgeberin bittet Lukas, den Tee zu servieren, da sie sich bei einem Unfall mit dem Roller die Schulter verletzt habe. Wir bekommen drei verschiedene diesjährige Pu Er-Qualitäten zum Probieren. Wir beginnen bei der günstigsten Variante und trinken uns zur Teuersten des Angebotes hoch. Wirklich überzeugen tut uns nur eine. Xiao Ze verkauft nur losen Tee.

Ihre Kund*innen sind ausschliesslich Zwischenhändler*innen, die Tees in verschiedenen Qualitäten zusammenkaufen und dann einen Blend herstellen: dies in der Absicht, Tee mit möglichst gleichbleibender Qualität und gleichbleibendem Geschmack herzustellen. Beim Teetrinken kommt Xiao Ze auf ihre Kinder zu sprechen. Stolz zeigt sie uns auf ihrem Mobiltelefon einen Film über einen ihrer Söhne, der erfolgreicher Experte für Pflanzenschutz bei Teepflanzen ist. Der andere Sohn führt ein kleines Lokal in der Nähe. Er habe eine Dai-Freundin, die er leider nicht heiraten könne, weil der Preis dafür 300'000 Yuan betrage, eine Summe, welche die Familie nicht aufbringen könne.
Da es nicht gern gesehen wird, wenn die Freilichtmuseumsgäste auf eigene Faust das Dorf besuchen und dort Tee kaufen statt im Museum, bringt uns Xiao Ze auf einem weiteren Schleichweg zurück ins Museumsgelände. Wir verabschieden uns herzlich und machen uns auf den Rückweg.
Wieder beim Hotel verabschieden wir auch gleich Katharina, die von Lee zum Bahnhof gebracht wird. Sie tritt ihre Bahnreise nach Shanghai an, um an der zweiten Teereise in Ostchina teilzunehmen. Für uns anderen reicht es zu einer kurzen Abkühlung im Pool, bevor wir ein letztes gemeinsames Hani-Abendessen in Hotelnähe geniessen, und dann auch Lukas verabschieden, der im Taxi zum Flughafen fährt. A Xing beabsichtigt am kommenden Tag zurück nach Dali zu reisen, um an einem Musik-Workshop teilzunehmen. Urs und ich haben noch zwei Tage Jinghong vor uns, um Stadt und Umgebung auf eigene Faust zu erkunden.
Mittwoch, 10. April 2024
Wir sind wieder zu Hause und bekommen ab und zu eine Nachricht von Lukas aus Ostchina. Bei uns ist alles ausgepackt. Auf dem Tisch stapeln sich Tee, Gong Fu Cha-Zubehör und so das eine und andere Souvenir. Vor allem aber sind wir reich an Eindrücken und Erfahrungen. Wir durften in Yunnan die Wiege des Tees und uralte Teebäume kennenlernen. Wir wurden auf perfekte Weise geführt von Lukas in Begleitung von A Xing und mit den besten Chauffeuren, die Yunnan zu bieten hat.
Wir sind beglückt von dieser wunderbaren Reise, von der Camelia sinensis bis hin zum gepressten und gelagerten Pu Er. Und die Erfahrung, selbst zu pflücken und einige der Schritte der Produktion selbst mitzumachen, hat uns auf eindrückliche Weise gezeigt, wie kostbar Tee ist. So kostbar, dass wir uns in Zukunft immer wieder genügend Zeit - auf jeden Fall mehr Zeit als bisher - zum Geniessen nehmen wollen. Wir sind dem Teeladen Länggass-Tee und der Familie Lange sehr dankbar, dass wir unseren Zugang zu Tee auf diese Weise vertiefen durften.
Angela Losert mit Unterstützung von Urs Flückiger
Juli 2024