Kama-Taki - Holzbrandkeramik aus Iga

Auch wenn mich als Kind die Begegnung mit einem schön geformten, makellosen Porzellanteller auf dem Esstisch gelegentlich verwirrte, hatte ich mein Leben lang nie allzu viele Gedanken an die Perfektheit unserer Alltagskeramik verschwendet. Sie war einfach da, erfüllte ihre Funktion einwandfrei und zerbrach zuweilen spektakulär. Einige Jahre später trat der Tee in mein Leben und lud mich damit in die wunderbare Welt der Keramik ein.
Meine erste Begegnung mit den Werken von Aiko Watanabe kamen einem Schock gleich. Dicht gefolgt von etwas, das einer Offenbarung nahekam. Unförmig und rau waren alle Stücke, die sie nach Bern mitbrachte. Die Farben sonderbar verteilt, die Oberflächen unregelmässig und lebendig. Es hatte wenig mit dem zu tun, was ich bisher an Keramik vor mir hatte. Allein ihre Entscheidung, keinerlei offensichtliche Symmetrie in den Schalen und Bechern walten zu lassen, berührte mich nach meiner westlichen Sozialisation mit makellosem Weissporzellan zuerst auf eine komische, unangenehme Art, liess mich bald fragend und schliesslich völlig fasziniert zurück.
Wir lernten uns in Bern kennen, als sie im Zuge ihrer Ausstellung im Musée Arianne in Genf eine Weile bei uns im Teehaus von Länggass-Tee zu Besuch war. Wir konnten nicht miteinander reden. Ich sprach kein Japanisch und sie kaum Englisch. Und doch verstanden wir uns gut. Wir fanden uns in einer Schwäche zu stinkigem Käse und Wein. Sie lud mich nach Japan ein, um ihr beim Brennen des Ofens zu helfen. Wieso, weiss ich nicht. Wir kannten uns kaum und mir war damals nicht bewusst, welche Ehre mir da zuteilwurde. Drei Jahre später konnte ich der Einladung folgen. Im Frühling 2023 ging ich nach Japan und verbrachte einige Tage bei Aiko in Iga. Hier folgt mein Reisebericht.



Vorbei an kleineren und grösseren Provinzstädtchen ist man in gut zwei Stunden von Kyoto in Tsuge, dem nächstgelegenen Bahnhof. Von da aus gehts mit dem Auto zum Ziel. Schnurgerade Schotterstrassen führen entlang endloser Parzellen mit Nassreis. Die erste Ernte wurde schon eingeholt und so bricht das Licht der Sonne ungestört in der spiegelglatten Wasseroberfläche der quadratisch angelegten Felder. Alles äusserst szenisch, so wie ich mir die Provinz in Ostasien gelegentlich ausgemalt habe. Der Wagen biegt auf einen erhöhten, von Bäumen umgebenen Platz ein. Hier stehen zwei schlicht gebaute, moderne Holzhäuser. Das eine Keramikwerkstatt, das andere Atelierhaus. Ihnen gegenüber stehen zwei überdachte Anagama-Öfen. Anagama heisst Tunnelofen und meint einen Keramikbrennofen, der aus einer Kammer besteht.
Sonderbare Bauten, diese Brennöfen. Die Form erinnert an ein langgezogenes Iglu. Nicht aus Eis und Schnee, sondern mit Stein und Schlamm erbaut. Am vorderen Ende des rechten Ofens brennt in einer Öffnung ein kleines Feuer. Der Ofen ragt aus der Erde, als wäre er ihr entstiegen. Tatsächlich ist er in den Hügel gegraben, das hintere Drittel komplett dem ansteigenden Hang zugehörig. Der vier Meter hohe Schornstein zeigt an, wie tief die Brennkammer reicht.

Aiko hat das letzte halbe Jahr damit verbracht, sich auf diesen Tag vorzubereiten. Heute Morgen früh hat sie ein kleines Feuer vor dem Ofen entfacht. Zu Beginn geht es darum, die Feuchtigkeit im Ofen und der Erde rundherum zu reduzieren, dazu genügt die Hitze eines kleinen Feuers.
Drei Tage hat es gedauert, bis alle Stücke, die sie über das letzte halbe Jahr hinweg getöpfert hat, einen Platz im Ofen gefunden haben. Das Setzen der ungebrannten Stücke in der Brennkammer sei das Schwierigste am Kama-Taki, dem Ofen feuern. Je nach Position und Anordnung werden Asche und Flammen ganz unterschiedliche Spuren hinterlassen. Durch das kleine Loch kann ich ab und zu durch die Flammen in das Innere des Ofens blicken. Es bietet sich ein wunderlicher Anblick. Unförmig, bauchig, flach oder hoch aufgerichtet stehen in der dunklen Kammer Gegenstände. Vom winzigen Becher zur meterhohen Vase, alle stehen sie ganz ruhig da. Das meiste nur schemenhaft im hinteren Teil des Raumes erkennbar.



Neben mir sind noch Mai-Mai und Ena-san für das Kama-Taki angereist. Mai-Mai ist ein langjähriger Helfer von Aiko. Die beiden teilen sich die vier Tage des Kama-Taki in vier- bis zehnstündige Schichten auf, damit Tag und Nacht eine erfahrene Person beim Ofen ist. Ena und ich unterstützen, wo wir können. Wir richten uns im Wohnhaus ein und feiern mit Wein und warmem Sake gemeinsam den Beginn der Unternehmung. Draussen, vom Esstisch aus sichtbar, flackert das kleine Feuer im Ofen.
Nach dem Essen setzen wir uns zu dritt vor den Anagama und beginnen, die Hitze ganz langsam anzuheben. Auf dem Dachbalken über dem Ofen steht ein kleines Kästchen, auf dem grüne Leuchtziffern die Temperatur im Inneren anzeigen. Um zwei Uhr nachts zeigt es 260°C. Es braucht nur wenig Holz, nur ab und an legen wir nach.
Als ich am nächsten Morgen zum Ofen komme, zeigt er 450°C an. Aiko beginnt nun stetig in kürzeren Abständen Holz nachzulegen. Die Temperaturen steigen zusehends schneller, die Stimmung auf dem Platz wird lebhafter. Viele Reihen Feuerholz sind neben dem Ofen in langen Beigen gestapelt. Das Tempo der Bewegungen nimmt zu. Alle paar Minuten tragen wir ein grosses Bündel Holz vor den Ofen.



Nach dem Mittag leuchtet die Ziffer 950 vom Dachbalken herunter. Ein sanftes Rauschen ist zu hören. Aus dem Kamin, der hinter dem Ofen in die Luft ragt, schlägt ununterbrochen eine gewaltige Stichflamme hervor. Die Temperatur steigt jetzt nur noch etwa 10°C pro Stunde und das, obwohl wir so viel Holz wie möglich verbrennen.



Der Vorgang beim Einfeuern ist immer derselbe: Vorne am Ofen gibt es auf Kniehöhe eine kleine quadratische Öffnung. Durch diese wirft man in schneller Abfolge bis zu zehn Scheite hinein. Nach dem Einwerfen stapelt man rasch einige Holzstücke in der Ofenöffnung aufeinander, bis das Loch zugebaut ist, sodass nur wenig Luft hineinkommt und so viel Holz wie möglich auf einmal in Flammen steht. Nach und nach schiebt man die aufgebauten Holzscheite in den Ofen, bis sie nach drei Minuten in ihrer kompletten Länge im Ofen stecken und beinahe ganz abgebrannt sind. Mit einem letzten kräftigen Stoss auf die hinteren Enden der Holzstücke drückt man alle gleichzeitig durch die Öffnung, um sofort einige Stücke nachzuwerfen und anschließend den Eingang wieder zuzubauen.
Das Einwerfen ist anspruchsvoll: Im Ofeninnern gibt es eine vorgesehene Fläche für den Gluthaufen, Etwa 1.5m tief und ein Meter breit. Dabei müssen die Holzscheite am richtigen Ort auf dem Gluthaufen landen. Fliegen sie zu weit oder in die falsche Richtung, trifft es die fragile Keramik; gerät der Wurf zu kurz, versperren sie den Platz für die nachfolgende Scheite. Um für den Wurf zu zielen, muss man nahe vor den Ofen knien und durch die Öffnung schauen. Die Hitze trifft mit voller Wucht im Gesicht. Für einen kurzen Augenblick sehe ich die weissglühende Keramik und den flimmernden Feuerstrom, in dem sie steht.
In dem Moment, wenn kein Holz den Eingang versperrt, schluckt der Ofen wie ein Ertrinkender nach Luft. Ein lautes Schnaufen und Fauchen, bis das Quadrat wieder eilig zugebaut wird. Das riesige Feuer im Inneren atmet langsam, angeleitet vom Öffnen und Schliessen des Eingangs. Vor Mitternacht zeigt das Thermometer 1100°C an. Mir wird erklärt, dass bei diesen Temperaturen der Moment eintritt, bei dem die Asche, die durch die Kammer fliegt, auf den Oberflächen der Keramiken zu Glas zu schmelzen beginnt.



Wir sitzen vor dem Ofen. Das ganze Sichtfeld ist eingenommen von dem pulsierenden Licht, rundherum dunkle Nacht. Das neu eingelegte Holz knackt, der Flammenstrom, der durch die getöpferten Gefässe fährt, rauscht tief vor sich hin. In den Reisfeldern umher quaken hunderte Frösche durcheinander, ein anhaltendes Dröhnen in den Schatten. Licht, Hitze und Geräusche durchsetzen meine Wahrnehmung komplett. Eine Weile setzt die Zeit aus. In der Tiefe der Betrachtung verlieren sich alle Gedanken. Vor uns leuchtet eine kleine Sonne, eingesperrt in Stein, Schlamm und Erde. Lange, feine Lichtsäulen treten überall durch Risse im Verputz entlang des Ofens aus. Es ist tiefe Nacht. Irgendwann beginnt es zu regnen. Der Duft des nassen Waldes um uns durchdringt die Luft. Aiko tritt ihre Schicht an und ich gehe schlafen.




Am dritten Tag setze ich mich mittags vor den Ofen. Die Temperatur hält sich auf 1150°C. Ena, die als einzige richtig Englisch spricht, erklärt mir, dass sich das Wetter auf das Brandergebnis auswirke. Wechselhafte Bedingungen würden spannende Landschaften auf die Oberflächen zeichnen. Die Feuchtigkeit im Boden wirkt sich auf das Klima im Ofen aus. Die Keramik und das Feuer, obwohl so gewaltig, reagieren empfindlich auf Umwelteinflüsse. Manche davon regulierbar, andere den Launen des Tages überlassen.
Es wird weiter gefeuert, nebenher gekocht, gegessen, viel Tee und Sake getrunken. Erst als es wieder dunkel wird, ereignet sich Neues.








Aiko holt zwei lange Schaufeln aus massivem Eisen, bindet sich schützende Tücher um den Kopf und wirkt konzentriert. Ganz vorne im Ofen hat sich das verbrannte Holz zu einem Berg von Glut angehäuft. Sie fährt mit der Schaufel durch das Loch und stösst in den Gluthaufen. Mit kräftigen, schwungvollen Bewegungen wirft sie Asche und Glut im ganzen Ofen umher. Der lange Stiel fährt mit seiner ganzen Länge auf der Unterseite der Offenöffnung entlang. Schon nach wenigen Stössen schmilzt der dicke Stil der Schaufel und muss zurechtgebogen und durch die zweite ersetzt werden.
Fünf Meter von der kleinen Öffnung entfernt, spüre ich die aufwallende Hitze der zerstäubten Glut auf meiner Haut. Nach dem der Haufen verteilt ist, wirft sie viel Holz nach. Diese Prozedur wiederholt sich nun alle paar Stunden. Dabei gibt es Phasen in denen nur wenig oder gar nicht nachgelegt wird.



Am vierten Tag klärt der Himmel auf, es ist der erste warme Mai-Tag. Ena teilt mir mit, dass heute am frühen Abend einige Stücke aus dem Ofen geholt würden. Gespannt versammeln wir uns zu viert draussen. Mit einem langen Eisenstab, dessen Ende rechtwinklig abgebogen ist, gräbt und fischt Aiko einige Stücke direkt aus der Glut und dem Feuer. Hat sie ein Gefäss befreit und aufgegabelt macht zwei Schritte zurück und hält den Stab, an dem die glühend-leuchtende Schale baumelt, weit über ihren Kopf und schüttelt sie kräftig. Wie bei einem Feuerwerk stieben Funken in alle Richtungen. Ein Regen aus roter Glut und Asche geht auf Aiko nieder. Sobald die Schale leer ist, stellt sie sie zum Auskühlen auf den nassen Kiesboden.
Während Aiko im Ofen nach dem nächsten Stück tastet, beugen wir uns über die weissglühende Chawan und sehen zu, wie sich die Farbe wandelt. Helles Orange, dann tiefes Rot und schliesslich erkaltet, glänzende Blau-, Grün-, Weiss und Schwarz-Töne. Unter leisem Knirschen verfestigt sich das flüssige Glas.



Etwa zehn Gefässe werden in rascher Folge aus dem Ofen geholt, ausgeschüttelt und zum Auskühlen platziert. Später habe ich erfahren, dass dieser Prozess Hikidashi (herausziehen) heisst. Im Gegensatz zum Rakubrand, bei dem die Keramik auch glühend aus dem Ofen kommen und rasch mit Stroh oder Laub bedeckt werden sind die Temperaturen beim Shigaraki Anagama Brand, an der sich Aikos Technik orientiert, deutlich höher und die Glasur erstarrt an der Umgebungsluft. Von glänzend schwarz-violetten Glasuren bis strahlend hellen Oberflächen mit feinem Craquelé ist alles möglich. Da von einem bereits stark limitierten Brand nur ganz wenige Stücke herausgezogen werden gelten Hikidashi-Stücke als besonders selten.






Eine kurze Weile wird noch gefeuert, danach wird der Ofen luftdicht verschlossen. Der Grossteil der Keramik befindet sich noch in der Brennkammer und wird nun über mehrere Tage langsam abkühlen. Nachdem die letzte Ritze mit grauem Mörtel zugepflastert ist, ist die Stimmung gelöst. Bis zu diesem Moment wusste niemand, ob der Brand überhaupt gelingen würde.
Neben dem Ofen sitzend, verbringe ich eine halbe Stunde damit, einen gerade erstarrten Teebecher zu betrachten. Ich drehe ihn langsam in meinen Händen, er ist noch warm vom Brand. Die Komplexität und Tiefe der Muster hypnotisieren und streckenweise zergehe ich der Betrachtung. Roh, kraftvoll, durchdrungen von einer unhinterfragten, zufälligen Ursprünglichkeit. Der Blick prallt an der harten, unnachgiebigen Oberfläche ab, doch gehalten fühlt es sich leicht und weich an. Die Gefässe schmiegen sich an die sie umschliessende Hand. Die Glasur wirkt wie ein Gemälde, rau und fleckig - die Rinde eines alten Baumes. Mancherorts finden sich leuchtende blaue und grüne Bäche, im Dahinfliessen erkaltet. Vielleicht ist es auch nur die Überwältigung im Angesicht des Ergebnisses. Zu sehen, was der Fluss der Flammen auf den Ton gezeichnet hat, wie Holz zu Glas wurde; wie in Form gebrachte, grauweisse Erde zu etwas transzendiert wird, was sich kaum in Worte fassen lässt.
Aiko ist zufrieden. Der Brand ist geglückt. Wir trinken Sake aus einem der frisch gebrannten Gefässe und feiern in die Nacht hinein.
Toby Hurschler
Sommer 2023 (adaptiert für Länggasstee Herbst 2025)

Watanabe Aiko (geb. 1971 in Sakai, Osaka) studierte zunächst Malerei und wandte sich ab 1994 dem traditionellen Shigaraki-Holzofenbrand zu. 2001 baute sie ihren ersten eigenen Holzofen, 2003 folgte ein zweiter. Seither hat sie sich der Perfektion klassischer Ascheanflugglasuren verschrieben und eine Meisterschaft in der Ofenführung entwickelt. Formal orientiert sie sich überwiegend am klassischen Formenkanon der Keramiktradition von Iga und Shigaraki und schafft Töpferwaren für verschiedene Bereiche unter anderem für die japanische Teezeremonie. Sie hat grosse Berühmtheit in der Shigaraki-Szene erlangt und ist eine der ganz wenigen Frauen die in Japan einen Holzbrandofen betreiben. Aiko lebt und arbeitet in Tokio und Iga.




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